Portrait von Sportmediziner Dr. med. Rober Percy Marshall

„Wir schauen wahrscheinlich häufiger auf unser Mobiltelefon als aus dem Fenster“

Als Mediziner mit einem Schwerpunkt auf Humanmedizin verfolgt Dr. Marshall eine ganzheitliche medizinische Herangehensweise, die sich auf Salutogenese fokussiert. Dieses Konzept untersucht und analysiert sämtliche Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Gesundheit beitragen. Dabei spielt auch der Einfluss von externen Stressoren wie digitale Medien eine wichtige Rolle. Im Interview spricht Dr. Marshall über die Bedeutung von Sport und Bewegung als Gegenpol zur digitalen Dauerbelastung und erklärt, wie Atemübungen zur Stressbewältigung beitragen können.

Dr. Marshall, Sie sind Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, ihre Spezialgebiete sind die konservative Orthopädie, alternative Heilmethoden und Mikronährstofftherapie. Wie sehen Sie den Stellenwert beziehungsweise die Akzeptanz konservativer und alternativer Anwendungen in der Gesellschaft im Allgemeinen und speziell in der Medizin?

Ich glaube, dass die Akzeptanz der Präventivmedizin in der Gesellschaft in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Vor allem die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre im Zusammenhang mit der CoVid19-Pandemie sowie die Diskrepanz aus zunehmender Lebenserwartung und abnehmender Gesundheitsspanne haben dazu geführt, dass Menschen viel mehr bereit sind, aktiv an ihrer Gesundheit zu arbeiten. Von daher haben konservative Behandlungsansätze, die häufig einen präventiven oder salutogenetischen Ansatz verfolgen, einen zunehmend größeren Stellenwert als operative oder chirurgische Therapien, die meist auf einem pathogenetischen Ursprung beruhen. Ich persönlich sehe diese beiden Ansätze dabei jedoch nicht als Gegenspieler, sondern beide als wichtige sich ergänzende medizinische Module für die Gesundheit der Menschheit.

Sie haben schon häufiger das Thema „Sport als Medizin“ aufgegriffen. Heutzutage tritt neben den häufig thematisierten Umwelt- und Arbeitsbelastungen das Thema Digital Overload immer mehr in den Vordergrund. Wie schätzen Sie dieses Thema ein? Ist auch hier der Sport ein geeigneter „Gegenpol“?

Wir leben in einer Gesellschaft, die von Produktivität dominiert wird. Das Individuum wird nicht nur daran gemessen, welche Leistungen erbracht werden, sondern auch wieviel in die Karriere investiert wird. Für mich persönlich erscheint manchmal sogar, dass Quantität die Qualität in ihrer Bedeutung überholt hat. Dabei vernachlässigen wir zunehmend die Säulen, ohne die unsere Gesundheit nicht möglich ist: Adäquate Bewegung, gesunde Ernährung und eine mit den Belastungen in Einklang stehende Regeneration.

Die „digitale Revolution“ trägt jedoch dazu bei, dass wir stets erreichbar sind und ein Abschalten kaum noch akzeptiert wird. Selbst sportliche Belastung oder Regeneration sind für viele Menschen ohne digitale Hilfsmittel und permanente Erreichbarkeit kaum vorstellbar. Dabei bietet Sport wie beispielsweise Joggen, Schwimmen oder Radfahren in der Natur, aber auch meditieren oder Yoga einen geeigneten Gegenpol zu der digitalen Dauerbelastung, der wir uns ständig ausgesetzt sehen. Dabei sollten wir viel mehr Fokus auf einen achtsamen Umgang legen. Ich empfehle zum Beispiel, das Handy und die Kopfhörer beim Joggen daheim zu lassen, ohne spezifischen Trainingsplan zu laufen und einfach „nur“ den Körper den Weg vorgeben zu lassen und zu spüren.

Was bewirkt medizinisch betrachtet die intensive Nutzung sozialer Medien, also was macht es mit den Menschen und ihrer Gesundheit?

Die dauerhafte Aktivität unseres Gehirns führt zu ausgeprägten Stressreaktionen. Für unser System ist Stress in jeglicher Form, ob physischer oder psychischer Natur, eine chemische Belastung, die wir auf körperlicher Ebene messen können. Dies führt zu einer eingeschränkten Regeneration, vor allem des Schlafes, und damit langfristig zu einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit. Ebenso aber auch zu der Entstehung von chronischen Erkrankungen.

Im Schnitt betrachten wir digitale Bildschirme für etwa fünf Stunden am Tag – Jugendliche zum Teil bis zu 11 Stunden – , unser Blick aufs Telefon fällt etwa 80 mal pro Tag. Insgesamt schauen wir wahrscheinlich häufiger auf unser Mobiltelefon als aus dem Fenster. Unsere Aufmerksamkeitsspanne hat sich auf wenige Sekunden reduziert. Unser Gehirn ist darauf programmiert, ständig neue Eindrücke zu verarbeiten und hat dabei vollkommen verlernt, Ruhe zu akzeptieren und zu verarbeiten.

In der Neurowissenschaft gibt es Studien, die belegen, dass die ständige Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem schnellen und ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben auf Bildschirmen zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führen kann. Ebenso kann das ständige Multitasking den präfrontalen Cortex, der für die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit und Konzentration verantwortlich ist, überfordern und die Selbstkontrolle beeinträchtigen. Zusammenfassend kann somit die ständige Verfügbarkeit von Technologie dazu führen, dass unser Gehirn in einem dauerhaften Zustand der Stimulation und des Alarms gehalten wird, was zu einer Überproduktion von Stresshormonen und einer Beeinträchtigung der Schlafqualität führen kann. Wie schätzen Sie diese Aussagen ein beziehungsweise können Sie das anhand Ihrer Kenntnisse und Erfahrungen bestätigen?

Aus der eigenen Erfahrung und den wissenschaftlichen Daten, die mir vorliegen, kann ich diese Hypothesen nur bestätigen.

Hohe, chronische Stresslevel – hier spielt auch der Vagusnerv eine nicht unbedeutende Rolle, oder?

Stress versetzt den Körper über die Aktivierung des Sympathikus in einen persönlichen Kampf- und Fluchtmodus. Hierbei wird ein Notfallprogramm eingeschaltet, indem physiologisch notwendige Prozesse für den Erhalt der Gesundheit in den Hintergrund rücken. Der Vagusnerv hingegen ist das Kommunikationsvehikel des Parasympathikus. Es reguliert quasi den Stress herab und wirkt regenerativ.

Kann man mit Atmung den Stresskreislauf durchbrechen oder konkreter, kann eine bewusste, tiefer Bauchatmung den Vagusnerv positiv stimulieren?

Gezielte Atemtechniken sind dazu in der Lage, den Vagus-Nerv zu aktivieren und somit direkt auf die Regeneration einzuwirken. Hier haben sich beispielsweise der Psychic Sigh (durch die Nase einatmen, kurz halten und nochmal ganz kurz durch die Nase einatmen und dann ganz lange durch den Mund ausatmen) oder das Slow Paced Breathing (Bauchatmung, langsam mit etwa sechs Atemzügen pro Minute, länger Aus- als Einatmung) als geeignete Methoden herausgestellt. Diese Phänomene kennen wir schon lange aus der ayurvedischen Medizin und dem Yoga. Mittlerweile konnten diese physiologischen Anpassungen und Reaktionen jedoch auch wissenschaftlich nachgewiesen werden.

Welche Maßnahmen empfehlen Sie bei chronischem Stress?

Digital Detox, Meditation, Yoga, Atemübungen, Sport, Eisbäder, Sauerstofftherapie (IHHT oder HBOT).

Im neurozentrierten Training werden oft erfolgreich Farbbrillen und Knochenschallkopfhörer zur Stressregulation eingesetzt. Können Sie sich aus medizinischer Sicht die positiven Effekte von Farbe und Knochenschall erklären? Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Das Gehirn verarbeitet Informationen auf unterschiedliche Art und Weise. Es gibt hierfür unterschiedliche Sinne, wobei visuelle und auditive Reize einen nicht unerheblichen Einfluss haben können. Dabei können solche Reize sowohl aktivierend als auch beruhigende Wirkungen ausüben. Entsprechend wäre es – ohne dass ich mich in diesem Bereich als einen Experten bezeichnen würde – durchaus denkbar, dass diese Wirkungen auch über die oben genannten Kanäle möglich sind.

Über Dr. Marshall

Dr. med. Robert Percy Marshall ist Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin und hat einen Master-Abschluss in Mikronährstofftherapie und Regulationsmedizin. Seit 2018 ist er Mannschaftsarzt des Fußballbundesligaclubs RB Leipzig.

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1 Kommentar

Wunderbarer Artikel über die Schattenseiten der modernen digitalen Welt – leider gibt es noch zu wenige Ärzte/Therapeuten ua. welche sich damit im Rahmen Ihrer Arbeit beschäftigen. Gerade in Bereichen wie Baubiologie/Umweltmedizin weiß man auf Grund messbarer Technologien um die Gefahren/Wirkungen von ElektroMagnetischen Feldern/Frequenzen auf unsere Neuronalen Zellorchester.
mit Zellvitalen Grüßen
Walter Croneis
Prävention NextLevel und Meehr

Walter Croneis

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