Neuroathletik für Therapeuten – Physio meets Neuro

Die Neuroathletiktrainer Yassin Jebrini und Berengar Buschmann behandeln einen Mann auf dem Neuro Innovation Day 2023.

Lesezeit: 15 Minuten

Was passiert, wenn sich zwei Experten aus unterschiedlichen Richtungen treffen – und feststellen, dass ihre Methoden sich nicht nur ergänzen, sondern gegenseitig verstärken? Genau das haben Berengar Buschmann und Yassin Jebrini getan. Ihr Ziel: Die Neuroathletik in die physiotherapeutische Praxis bringen.

In diesem Artikel geben wir dir einen verständlichen, kompakten Einstieg in die Theorie und vor allem: konkrete Praxisübungen, die du sofort in deinen Therapiealltag integrieren kannst. Plus ein paar hilfreiche Tipps aus der Praxis, die dir den Einstieg erleichtern.

Was ist Physio meets Neuro?

Physio meets Neuro ist ein Projekt, das zwei Welten miteinander verbindet: die Physiotherapie und die Neuroathletik. Gemeinsam erforschen die Experten Berengar Buschmann und Yassin Jebrini die Stärken und Schnittmengen beider Methoden und versuchen, diese in Einklang zu bringen. Die Intention der Kampagne ist es, Therapeuten die Prinzipien der Neuroathletik näherzubringen und sie zu ermutigen, diese in ihren Arbeitsalltag zu integrieren. Dabei geht es darum, das Verständnis für das Zusammenspiel von Nerven-, Muskel- und Bindegewebesystemen zu vertiefen und neue, ganzheitliche Behandlungsansätze zu entwickeln. Dabei lassen sich neurozentrierte Methoden auch gezielt mit bewährten Konzepten wie Bobath oder PNF kombinieren, die insbesondere bei neurologischen Ausfällen Anwendung finden.

Neuroathletiktrainer Yassin und Physiotherapeut Berengar haben Methoden entwickelt, um gezielte Techniken aus dem neurozentrierten Training und der Physiotherapie sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Ein Behandlungskonzept, das den Fokus gezielt auf Koordination, Bewegungskontrolle und neuronale Integration legt – mit dem Ziel der langfristigen Verbesserung funktioneller Bewegungsabläufe. Das kann schon heute und auch in Zukunft vielen Menschen mental und physisch helfen.

Mehr als Bewegung: Was wirklich im Nervensystem passiert

Bewegung erscheint auf den ersten Blick simpel: Sinnesorgane empfangen einen Stimulus, das Gehirn verarbeitet ihn und sendet ein Signal an die Muskulatur. Doch hinter dieser einfachen Formulierung stecken komplexe neurologische Prozesse und bestimmte Schutzmuster, die durch Verletzungen oder neuronale Schädigungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden können. Neurozentrierte Trainingsreize setzen direkt am ZNS an und beeinflussen die neuronale Verarbeitung. Sie können im Verlauf einer Rehabilitation dazu genutzt werden, diese komplexen neurologischen Prozesse zu beeinflussen und unverhältnismäßig hohe Schutzmuster abzubauen.

Den ganzen Körper mitdenken

Das vestibuläre System (VIII. Hirnnerv – N. vestibulocochlearis) ist zentral für unsere Orientierung im Raum und die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft. Es steht in enger Verbindung zum visuellen und propriozeptiven System. Aus neurozentrierter Sicht lässt sich dieses Zusammenspiel gezielt therapeutisch nutzen – zum Beispiel zur Schmerzreduktion in den Hüftbeugern bei der tiefen Kniebeuge.

Eine einfache Anwendung: Der Patient geht langsam bis zum Schmerzpunkt in die Kniebeuge und fixiert dabei ein tief gehaltenes Ziel (z. B. den Vision Stick). Anschließend erfolgt ein schnelles Zurückkehren in den Parallelstand. Durch diesen kombinierten Reiz wird sensorischer Input in Hirnarealen wie Mesencephalon, Pons, Cerebellum und Thalamus so verarbeitet, dass das Gehirn Bewegungen besser vorhersagen kann. Das reduziert Schutzmechanismen wie Schmerz und erweitert die Bewegungsreichweite – oft schon nach wenigen Wiederholungen.

Bewegung beginnt im Kopf – und geht durch den Hirnstamm

Von der Bewegungsplanung bis zur Ausführung sind mehrere Strukturen beteiligt: das limbische System, der Assoziationskortex, der Thalamus (Teil des Zwischenhirns), das Cerebellum und der Hirnstamm mit Medulla oblongata, Pons und Mittelhirn arbeiten eng zusammen. Diese Netzwerke modulieren jede Bewegung – auch bei scheinbar lokalen Beschwerden wie Hüftproblemen.

Doch manchmal reicht klassisches Training allein nicht aus, um die Flexion zu verbessern. Hier kommt ein anderer Ansatz ins Spiel: die gezielte Aktivierung der Hirnnerven III (N. oculomotorius), IV (N. trochlearis) und VI (N. abducens), die für Augenbewegungen zuständig sind.

Warum ist das sinnvoll? Binokulares Sehen ist die zentrale Funktion des visuellen Systems und eng mit Haltungsreflexen verschaltet. Zwar beeinflussen diese Reflexe die Hüfte nicht direkt, doch über neuronale Verknüpfungen kann eine gezielte Augenposition, z. B. nach unten und innen, die Aktivierung des Hirnstamms fördern und dadurch die Flexionsfähigkeit verbessern (siehe Abb. 2 a – d).

Frau macht Übungen mit dem Vision Stick

Abb. 2 a – d: Kontrolle binokularer Funktionsfähigkeit: Augenfolgebewegung mit dem Vision Stick nahe der Nasenspitze nach vorn unten zur Aktivierung des Mittelhirns und der Pons

Feinabstimmung durch Kleinhirn und Thalamus

Das Gehirn steuert jede Bewegung – aber es begrenzt sie auch, wenn Schutzmuster wie Schmerz aktiv sind. Deshalb ist nicht nur der muskuläre Output wichtig, sondern auch die Verarbeitung des sensorischen Inputs. Besonders das Cerebellum (Kleinhirn) und der Thalamus übernehmen hier zentrale Aufgaben.

Das Cerebellum ist funktionell in drei Bereiche unterteilt:

  1. Vestibulocerebellum & Spinocerebellum: steuern Haltung, Rumpfbewegung und Muskeltonus
  2. Pontocerebellum: koordiniert gezielte Bewegungen und Sprachmotorik
  3. Vestibulocerebellum: stabilisiert die Blickmotorik auf eine Stelle

Im Thalamus wird dann entschieden, ob eine Bewegung in der geplanten Form umgesetzt wird. Das Ergebnis wird über den Motorkortex (Gyrus precentralis) an das Rückenmark weitergeleitet – über pyramidale und extrapyramidale Bahnen, inklusive der Hirnnervenkerne in der Formatio reticularis des Hirnstamms. Erst dort wird der Bewegungsimpuls schließlich in die Peripherie geleitet – und sichtbar.

Neurozentrierte Anwendung in der Praxis

Beispiel: Kontrolle binokularer Funktion
Durch gezielte Augenfolgebewegung mit dem Vision Stick – nah an der Nasenspitze nach vorn unten – lassen sich Mittelhirn und Pons aktivieren (Abb. 2 d).

Beispiel: Schmerzreduktion in der Hüftflexion
Durch langsame Kniebeugebewegungen bis zum Schmerzpunkt, kombiniert mit Blickfokus auf den Vision Stick (tief gehalten), kann die Verarbeitung im zentralen Nervensystem verbessert werden. Das Ziel: weniger Schmerz, mehr Beweglichkeit (Abb. 3 a + b).

Frau macht Übungen mit dem Vision Stick

Abb. 3 a + b: Verbesserung der Schmerzen während einer Hüftflexion in der tiefen Kniebeuge mit dem Vision Stick.

Sensorische Aktivierung peripherer Nerven
Auch sensorische Reize auf verletzten Strukturen können helfen, z. B. durch Vibration mit dem ARK Z-Vibe auf der betroffenen Seite. So lässt sich das Gehirn gezielt informieren und Schutzmuster können verändert werden.

Beispielhafte Integration in eine Therapieeinheit

Als gängige Belastungsprinzipien eines neurozentrierten Trainings sind ca. 30 min täglich empfehlenswert. Diese können ohne Probleme in kleinere zeitliche Elemente aufgebrochen und im Verlauf der Therapie integriert werden. So könnte eine beispielhafte Umsetzung zur Integration in eine Therapieeinheit oder eine gesonderte Trainingseinheit im Therapieverlauf folgendermaßen ablaufen:

Aktivierung bewegungssteuernder Systeme vor oder im Warm Up

Bevor es in die eigentliche Trainingseinheit oder Therapie geht, lohnt sich ein gezieltes Aktivieren der Systeme, die unsere Bewegung steuern. Dazu zählt primär die Gelenkmobilisation, um Bewegungsspielräume zu erweitern und das zentrale Nervensystem auf die folgenden Reize vorzubereiten.

Ergänzend kann ein visuelles und vestibuläres Training eingesetzt werden – je nach Befund bilateral oder einseitig. Gerade bei bekannten Schwächen in einem dieser Systeme kann das die neuronale Ansteuerung verbessern und die Kontrolle der Bewegungen spürbar optimieren. So wird aus dem Warm-up mehr als nur aufwärmen: Es wird zum gezielten neurologischen Einschalten des Körpers.

Zwischen Satz- oder Serienpausen

Zwischen den Sätzen lassen sich ein bis zwei gezielte Übungen einbauen, die das betroffene Gelenk sensorisch aktivieren oder das visuelle System ansprechen. Wichtig dabei: Die Übungen sollten einfach, schnell umsetzbar und ohne großen kognitiven Aufwand machbar sein. So bleibt der Fokus beim eigentlichen Training erhalten, während das Nervensystem effektiv mitarbeitet.

Cool Down

Zum Abschluss der Einheit sollte die Gelenk- und Nervenmobilisation der zuvor belasteten Bereiche im Fokus stehen. Das unterstützt die Regeneration und sorgt dafür, dass das neu gewonnene Bewegungsausmaß langfristig erhalten bleibt. Zusätzlich können folgende Übungen eingebaut werden:

  • Mobilisation von Wirbelsäule (HWS und BWS)
  • Mobilisation der Füße
  • Augenentspannung (z.B. durch Palming oder sanfte Augenmassage)
  • Atemtechniken zur Entspannung des Nervensystems

Den Original-Artikel Neurozentrierte Therapie findest du auf: sportaerztezeitung.com

Hands-on Neuroathletik: 4 Anwendungen für deine Praxis

In vier spannenden Sessions zeigen dir Yassin und Berengar, wie Neuroathletiktraining und Physiotherapie sinnvoll in der Praxis eingesetzt werden können. Verschiedene Beschwerden und Krankheitsbilder werden untersucht und mit der Unterstützung der besten Neuroathletik-Tools behandelt. Auch bei teilweiser Lähmung können gezielte Übungen zur Reaktivierung genutzt werden.

Session 1: Neuroathletiktraining bei Rückenschmerzen

Hast du häufig Schmerzen im Sitzen oder wenn du dir die Schuhe zubindest? Kannst du du aus dem Auto aussteigen oder verrenkst du dich in eine Schonhaltung? Kannst du durchschlafen oder hast du Probleme, lange liegenzubleiben?

Rückenschmerzen gehören nach wie vor zu den am meisten verbreiteten Volksleiden. Etwa Zweidrittel aller Deutschen leiden regelmäßig darunter. Kaum verwunderlich: Wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Dafür ist unser Körper nicht gemacht. Regelmäßige Übungen bei Rückenschmerzen können jedoch helfen.

>> Lesetipp: 6 Neuroathletik Übungen bei Rückenschmerzen

Yassin und Berengar zeigen dir, wie alltägliche Rückenschmerzen behandelt werden können:

Session 2: Neuroathletiktraining für den Vagusnerv

Hast du Schlafprobleme? Leidest du unter chronischen Schmerzen oder Verdauungsstörungen? Bist du schnell aus der Puste? Die Ursache dieser Probleme kann häufig im vegetativen Nervensystem und dem Vagusnerv gefunden werden.

Der Vagusnerv ist der zehnte und zugleich längste Nerv des Hirnnervensystems und trägt seinen Namen nicht umsonst; denn "vagus" bedeutet auf Lateinisch "umherschweifend". Tatsächlich durchzieht dieser Nerv weite Teile unseres Körpers und vernetzt das Gehirn mit vielen Organen, darunter das Herz, die Lunge und den Darm.

Ein gut funktionierender Vagusnerv hilft uns, Stress besser zu bewältigen, indem er dafür sorgt, dass unser Körper schneller vom Anspannungs- in den Entspannungszustand übergehen kann.

>> Lesetipp: Vagusnerv aktivieren: 3 einfache Übungen für mehr Entspannung und Gelassenheit

Berengar und Yassin zeigen dir im Video, wie der Vagusnerv dein Wohlbefinden beeinflusst und wie du ihn aktiv stimulieren kannst:

Session 3: Neuroathletiktraining bei Nackenschmerzen

Hast du häufig Nackenschmerzen? Zwickt der Nacken, wenn du beim Autofahren den Schulterblick machst? Kannst du deinen Kopf richtig zur Seite drehen?

Die Ursachen für Nackenschmerzen können vielfältig sein, und häufig ist eine Kombination verschiedener Faktoren im Spiel. Eine der Hauptursachen ist die muskuläre Verspannung, die aus einer unzureichenden oder ungünstigen Haltung resultiert – sei es durch stundenlanges Sitzen vor dem Computer oder durch eine falsche Positionierung im Schlaf. Auch der zunehmende Gebrauch von Smartphones führt oft zur sogenannten "Text Neck"-Belastung, bei der der Nacken über längere Zeit in einer nach unten geneigten Position verbleibt.

Berengar und Yassin zeigen dir im Video, was man professionell bei Nackenschmerzen unternehmen kann:

Session 4: Neuroathletiktraining bei Schulterschmerzen

Tut dir die Schulter weg, wenn du ins obere Regal greifen möchtest? Hast du manchmal ein Taubheitsgefühl im Arm, das bis in die Finger geht? Hast du Angst davor, schwere Kisten zu heben oder zu schieben, weil es dann die Schulterschmerzen wiederkommen?

Schulterschmerzen äußern sich in Unbehagen und Unannehmlichkeiten im Bereich zwischen Hals und Oberarm. Sie können akut oder chronisch sein, sich in ihrer Intensität unterscheiden und durch verschiedene Bewegungen oder Haltungen verstärken. Die Schulter selbst ist das beweglichste Gelenk des Körpers und von einer komplexen Struktur aus Muskeln, Sehnen und Bändern umgeben, was es besonders anfällig für Verletzungen oder Abnutzung macht.

Berengar und Yassin zeigen dir im Video, wie das sogenannte Schulter-Impingement mit Neuroathletikübungen behandeln kannst:

Physio meets Neuro - Interview mit Berengar Buschmann und Yassin Jebrini

Im Interview sprechen Physiotherapeut Berengar Buschmann und Neuroathletiktrainer Yassin Jebrini über die Chancen dieser Zusammenarbeit.

ARTZT neuro: Yassin, glaubst du, dass die traditionelle Physiotherapie mit ihren etablierten Methoden und Techniken möglicherweise veraltet ist?

Yassin Jebrini: Nein, auf gar keinen Fall. Die Techniken, die genutzt werden, schaffen ja für manche Patienten nachweislich Mehrwerte. Es ist aber sicherlich sinnvoll, den Blickwinkel auf Schmerz und andere Reha-Maßnahmen zu erweitern, weil deren Ursachen über die primär muskuloskelettal geprägte Therapie hinausgehen.

ARTZT neuro: Berengar, ist Neuroathletik vielleicht nur ein modischer Trend?

Berengar Buschmann: Es ist ganz sicher ein Trend. Zu den Hochzeiten des Faszientrends habe ich zum ersten Mal richtige Trendwellen kennengelernt. Für mich ist aber nicht der Trend entscheidend, sondern die inhaltliche Stärke, die auch mich persönlich fachlich weiterbringt. Hierbei darf man gerne jeder Thematik, die auf breites Interesse stößt, auch skeptisch gegenüberstehen.

ARTZT neuro: Wie würdet ihr den Erfolg eurer Behandlungsform messen?

Yassin: Durch reflektorische Assessments für den Therapeuten und sensorische und motorische für den Klienten können wir bei jeder Maßnahme sofort beurteilen, ob wir gerade einen Mehrwert generieren. Nur so können wir garantieren, dass alle gewählten Maßnahmen wirklich für den Patienten hilfreich sind.

Berengar: Meiner Meinung nach gibt es in der Welt der Neuroathletik noch zu wenig objektive Tests. Manches ist schon primär subjektiv. In Schulungen mit Yassin haben wir daher zum Beispiel Kraftmessgeräte eingesetzt, die Kräfte objektiv in Nm messen. Erfolg kommt aber durchaus auch durch Subjektivität, indem beispielsweise der Schmerz nach Techniken unmittelbar geringer ist.

ARTZT neuro: Welche Art von Verletzungen oder Erkrankungen behandelt ihr am häufigsten?

Yassin: Das ist sehr unterschiedlich. Da ich kein Physiotherapeut bin, kommen Patienten meist erst zu mir, wenn die Reha abgeschlossen ist und sich der gewünschte Erfolg nicht eingestellt hat. Wir sehen häufiger Klienten mit Schmerzproblemen oder Bewegungseinschränkungen, die Ärzte und Physiotherapeuten nicht in den Griff bekommen haben.

Berengar: In meinem Fall sind es allerlei Sportverletzungen und Überlastungssyndrome. Alles aus der Welt der Orthopädie und Chirurgie.

ARTZT neuro: Wie unterscheiden sich die Physiotherapie und Neuroathletik in Bezug auf den Rehabilitationsprozess?

Berengar: Ich glaube sie unterscheiden sich nicht, sondern ergänzen sich. Faszienrollen oder Tapes zum Beispiel werden in der Physiotherapie ebenso oft eingesetzt wie in der Neuroathletik. Es kommt auf die Sichtweise an: Bediene ich damit das Nerven- oder Bindegewebssystem mehr? Ich glaube man bedient beides. Man kann aber je nach Ziel im Detail andere Anwendungsschwerpunkte setzen.

Yassin: In der Neuroathletik achten wir neben der muskuloskelettalen Arbeit auch auf die Wiederherstellung der Bewegungskontrolle und -steuerung durch das zentrale Nervensystem. Wenn nach einer Verletzung oder Operation eine Struktur über einen gewissen Zeitraum nicht wie gewohnt belastet wird, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Belastbarkeit der Knochen, Muskeln, Sehnen, Faszien und Bänder, sondern auch auf die neuronalen Bereiche, die diese Strukturen innervieren und steuern. Wir müssen im Rahmen von Reha-Maßnahmen immer beides im Blick haben.

ARTZT neuro: Wie seht ihr die Zukunft für Physiotherapie und Neuroathletik im Hinblick auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen in der Rehabilitation?

Berengar: Das ist schwer zu beantworten. Die Zukunft der Physiotherapie ist für sich eine ganz eigene komplexe Frage. Im Hinblick auf das Match dieser beiden Welten glaube ich, dass vieles zusammenwachsen und sich immer weiter annähern wird. Neuroathletik wird sicher in Grundzügen zur fest integrierten Anwendungsform.

Yassin: Unser Kollege Felix Danners, ein Physiotherapeut, hat letztens gesagt, dass der Begriff Neuroathletik der Sache an sich gar nicht gerecht wird, da es um mehr geht als die Integration der funktionellen Neurologie ins Athletiktraining oder die Therapie.

Beim Wort Neuroathletik erwarten viele Leute ein neues Set an Techniken und Werkzeugen. Die neurozentrierte Perspektive bringt aber neben einer breiten Palette an Tools vor allem einen neuen Blickwinkel mit sich. Wir neigen dazu, eine uns vertraute Bandbreite an Techniken bei einem bestimmten Problem anzuwenden, was manchmal zu Erfolgen führt, manchmal aber auch nicht. Der neurozentrierte Ansatz bringt hier eine klare Struktur, wann was bei welchem Problem sinnvoll zum Einsatz kommen kann. Ich empfehle an der Stelle gerne den Podcast Zwischen Augenklappe und manueller Therapie, Episode 10 - Felix war auf Fortbildung.

ARTZT neuro: Yassin, ist die Neuroathletik in der Lage, den breiten Anwendungsbereich der traditionellen Physiotherapie abzudecken?

Yassin: Die Frage impliziert die Substitution der Physiotherapie durch Neuroathletiktraining, was absolut nicht zielführend ist. Ich nutze gerne die Metapher der funktionellen Neurologie als Regenschirm unter den alle Techniken aus Therapie und Training passen und der uns erklärt, wann und in welchem Kontext welche Technik in welcher Dosierung gewinnbringend eingesetzt werden kann.

Wie Berengar schon festgestellt hat – wir arbeiten alle am gleichen System, wir haben über unterschiedliche Techniken und Werkzeuge nur andere Zugänge. Die einen zielgerichteter und im Einklang mit den Bedürfnissen des Nervensystems der Patienten, die anderen eher zufällig und gewohnheitsbasiert. Der neurozentrierte Trainingsansatz ergänzt die Physiotherapie hervorragend und ermöglicht schnellere und zielgerichtetere Therapieerfolge. Die muskuloskelettale Perspektive wird um den der neuronalen Bewegungskontrolle und Bewegungssteuerung ergänzt.

ARTZT neuro: Berengar, gibt es in der Physiotherapie eine Tendenz zur Symptombehandlung anstelle einer ganzheitlichen Ursachenanalyse?

Berengar: Ja ganz sicher. Aber der gegenwärtige, gravierende Grund dafür sind nicht zwingend unqualifizierte Therapeuten, sondern die Arbeitsbedingungen mit extrem begrenzten Zeitintervallen pro Patient.

ARTZT neuro: Gibt es bestimmte Verletzungen, bei denen ihr die Zusammenarbeit mit der jeweils anderen Behandlungsform empfehlen würdet?

Berengar: Aus den bisherigen Erfahrungen kann man erfolgreiche gemeinsame Schritte bei Bandscheibenvorfällen, Kreuzbandrissen und beispielsweise auch Schulterimpingements gehen.

Yassin: Definitiv. Gerade was manualtherapeutische Maßnahmen angeht, sind Physiotherapeuten in der Regel wesentlich besser ausgebildet und bewandter als Trainer und bewegen sich hier auch rechtlich auf sichererem Terrain.

ARTZT neuro: Was müsste man tun, damit Patienten von einer integrativen Herangehensweise profitieren, welche die besten Elemente beider Behandlungsformen vereint?

Berengar: Um auf visionäre, hochmotivierte und fortbildungswillige Therapeuten zu hoffen und die Chance zu erhöhen, braucht es eine Reform im deutschen Gesundheitssystem. Letztlich heißt es ja auch nicht, dass der Physiotherapeut den Neuroathletik Trainer ersetzen muss, sondern er kann testen, in wie weit die Ansätze hieraus für den Patienten relevant sind und dann auch an professionelle Kollegen vermitteln. Dafür muss ich als Physio aber auch dieses systemische Denken verstehen.

Yassin: Für mich sollte die funktionelle Neurologie in die Ausbildung von Therapeuten integriert werden, damit eine vollständigere Behandlung möglich ist. Dies gilt für Sportwissenschaftler und Trainer gleichermaßen. Es existiert eine Lücke, die es im Bereich des Trainings und der Therapie zu schließen gilt. Davon würden alle profitieren. Fakt ist: Wir arbeiten alle immer mit dem Nervensystem. Deshalb sollten wir es verantwortungsvoll und nicht zufällig tun, ausschließlich auf unseren eignen Gewohnheiten und Bequemlichkeiten basierend.

Fazit: Neuroathletik in der Physio-Praxis: Ein Ansatz, der weiterdenkt

Neuroathletik ist mehr als ein neuer Therapieansatz – sie ist eine Einladung, gewohnte Perspektiven zu hinterfragen und die muskuloskelettale Therapie durch gezielte Reize auf das Nervensystem zu erweitern. Egal, bei welcher Art von Schmerzen: Die Verknüpfung von visuellen, vestibulären und propriozeptiven Impulsen mit klassischer Physiotherapie schafft neue Möglichkeiten – direkt am Rückenmark, über oblongata, formatio reticularis und Co.

Berengar Buschmann und Yassin Jebrini zeigen mit „Physio meets Neuro“, wie sich Koordination, Schmerzverarbeitung und die Kontrolle von Bewegungen gezielt verbessern lassen – durch ein Verständnis für das, was im Kopf beginnt und im Körper spürbar wird.

Unsere Autoren und Experten

Hinter Physio meets Neuro stehen erfahrene Therapeuten, Trainer und Coaches, die Neuroathletik nicht nur theoretisch durchdrungen haben – sondern sie täglich praktisch anwenden. Hier stellen sich die Köpfe vor, die ihre Erfahrungen, Ideen und Ansätze in diesen Artikel eingebracht haben.

Verantwortlich für den Artikel Neurozentrierte Therapie:

Björn Reindl

Inhaber und Geschäftsführer des interdisziplinären Gesundheitszentrums R2comSport in Neu Isenburg, Chiropractor (M.o.C. Swe.), Osteopath und Dozent im Bereich der DOSB-Sportphysio-Therapie

Der Heilpraktiker und Physiotherapeut bac. Nl. betreute als leitender Physiotherapeut sieben Jahre lang die Eintracht Frankfurt Fußball AG. Zuvor behandelte er sowohl den FSV Frankfurt als auch die Kickers Offenbach in den jeweiligen Vereinen.

Kevin Nickoll

Sportwissenschaftler (M. A. Sportwissenschaft) bei R2comSport in Neu-Isenburg

Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen medizinisches Aufbau- und Athletiktraining, Functional Range Conditioning und neurozentriertes Training. Er betreut hauptverantwortlich alle Leistungssportler verschiedener Sportarten auf (inter)nationaler Ebene und ist vor allem auf die untere Extremität spezialisiert.

Verantwortlich für das Konzept Physio meets Neuro:

Berengar Buschmann

DOSB Sporthysiotherapeut, Physiotherapeut B.Sc., Sekt. Heilpraktiker & Trainer, Inhaber AREHA Idstein

Berengar Buschmann ist Sportphysiotherapeut aus Leidenschaft und lebt diese Berufung innerhalb seines „zweiten Berufslebens“ täglich dynamisch und optimistisch. Er ist seit 10 Jahren als Dozent und seit 6 Jahren mit Sportlern aus dem Hochleistungs-/Profisport (Top 100 Tennisspieler ATP sowie Fußballer aus der Bundesliga und Champions League) im Einsatz. In seinem ersten beruflichen Lebensschritt war er Berufsfußballer, wurde zum betitelten Sportinvaliden und kam stärker zurück ins Leben als je zuvor. Diese Erfahrungen helfen ihm heute, seinen Kunden beziehungsweise Patienten zu helfen. Seither tüftelt und entwickelt Buschmann als „Gesundheitsvisionär“ an und mit seinem AREHA Team das „möglichst perfekte Konzept“ zur Gesunderhaltung.

Yassin Jebrini

Sportwissenschaftler, Neuroathletiktrainer & Ausbilder

Yassin Jebrini ist einer der führenden Coaches und Ausbilder im Bereich Neuroathletik. Er nutzt seine Erfahrungen als Z-Health Master Practicioner, ehemaliger Leistungssportler (Fußball & Rudern), Master-Absolvent der Deutschen Sporthochschule Köln und langjähriger Trainer, um ambitionierte Trainer und Therapeuten sowie Athleten in neurozentrierten Trainings- und Therapieansätzen auszubilden. Sein sechsmonatiges Neuroathletik Mentorship gehört zu den professionellsten und tiefgründigsten Ausbildungsprogrammen im deutschsprachigen Raum.