Portrait Matthias Wittfoth

Interview mit Neurowissenschaftler Matthias Wittfoth: "Die Wim Hof Methode kann die Atmung positiv ausbalancieren"

Lesedauer: 5 min.

Dr. Wittfoth, Sie sind Neurowissenschaftler und Psychologe und befassen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Atmung. Warum sollte die Atmung aus Ihrer Sicht mehr Beachtung finden, wir atmen doch von Geburt an alle ganz automatisch?

Zunächst einmal ist es ja sehr spannend, was man mit einer veränderten Atmung alles machen kann. Wenn man bestimmte Atemtechniken ausprobiert und an sich selbst erfährt, merkt man, dass es einen in andere Bewusstseinszustände bringen kann und dass es auch körperliche, zum Teil sehr starke physiologische Prozesse auslöst.

Natürlich atmen alles Menschen von Geburt an und benötigen diesen grundlegenden Lebenserhaltungsprozess, aber es gibt schon bestimmte Atemmuster, die wir uns dann im Laufe des Lebens antrainieren. Dies passiert häufig als Reaktion auf traumatische Erlebnisse, aber auch Ernährungsgewohnheiten und Umwelteinflüsse spielen hier eine Rolle. Insgesamt lässt sich nicht verallgemeinern, dass die meisten Menschen „falsch“ atmen. Doch erleben viele Menschen häufig nach einem Atemtraining eine Verbesserung, die zu einem subjektiven Gefühl verbesserter Gesundheit führt und auch körperlich lässt sich dann objektiv feststellen, dass einige somatische Faktoren verbessert werden.

Welche Auswirkungen hat eine falsche Atmung auf unsere Gesundheit?

Ich möchte hier ungern von falscher Atmung sprechen, denn aus der Sicht des Körpers geschehen Anpassungsmechanismen, die versuchen mit gegebenen Umständen klarzukommen.

Daher sollten wir eher von dysfunktionaler Atmung sprechen. Die Atmung versucht sowohl auf Umweltreize zu reagieren, wie z.B. vermehrtem Stress, und muss ebenso mit gewordenen körperlichen Entwicklungen zurechtkommen, wie z.B. einer Körperhaltung, die eher an Schreibtischarbeit angepasst ist und eine tiefe Atmung kaum zulässt. Auch sind verstopfte Nasen häufig und lassen nur Mundatmung zu. Dies alles kann relativ schnell zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen führen. Die Folge sind Schlafstörungen durch Schnarchen oder Schlafapnoe sowie chronischer Stress, der wie in einem Teufelskreis zu schnelle Mehratmung fördert, die dann wiederum den Stress nicht ausklingen lassen kann.

Aktuell wird vermehrt diskutiert, dass Zahnfehlstellungen insbesondere in der kindlichen Zahnentwicklung eine Konsequenz von übermäßiger Mundatmung sein könnte.

Warum findet die Atmung bisher so wenig Beachtung in Therapie und Training?

Es hat da in den letzten Jahren einen großen Impuls gegeben, die Atmung wieder mehr in den Fokus zu rücken. Die Entwicklung ist jedoch noch lange nicht dort angelangt, wo sie sein sollte. Die Ignoranz gegenüber Atmung als therapeutisches und leistungssteigendes Instrument hat viele Ursachen. Vor dem Hintergrund, dass eine große Anzahl Menschen auf der Welt, Atmung kulturell seit Jahrtausenden nutzen ist dies natürlich schon sehr seltsam.

Mögliche Gründe dafür liegen in einem lückenhaften wissenschaftlichen Verständnis von Atmung, in dem Phänomen, welches medizinische Erfolge von Atemveränderung eher woanders verortet hat (Placebo) und in der Entwicklung von vermeintlichen pharmakologischen „Durchbrüchen“, die die genauere Betrachtung und Untersuchung von Atemtechniken obsolet werden ließen. Ebenso scheint die Nähe von bestimmten Atemschulen zu esoterischen und psychedelischen Kreisen die ernsthafte Beschäftigung verhindert zu haben.

Wie kann man die Atmung trainieren und gibt es hilfreiche Tools, die den Einstieg erleichtern?

Es gibt derzeit zahlreiche Atemrichtungen, die unterschiedliche Ansätze propagieren. Wichtig ist, dass man sich zu einem dieser Ansätze hingezogen fühlt und sich motiviert fühlt, das mal auszutesten. Dabei ist eine gute Anleitung eigentlich immer von Vorteil.

Meiner Erfahrung nach sind Atemtechniken für den Einstieg super, die ein unmittelbares neues Erlebnis bieten, obwohl es auch empfehlenswerte Atemtechniken gibt, die über das tägliche Training langsam, aber sehr effektiv Veränderungen bewirken. Glücklicherweise findet man im Netz viele gute Anleitungen und kann sich inspirieren lassen. Es ist insbesondere Wim Hof hoch anzurechnen, die Leistung vollbracht zu haben, Atmung ansprechend und motivierend der Welt zu präsentieren.

Doch um den Fortschritt, dem man mit diesen Atemtechniken haben kann noch zu unterstützen, bieten sich einige direkte Hilfsmittel an. Im Grunde ist bei allen Atemschulen, die tiefe Zwerchfellatmung wichtig. Ein Atemgürtel ist sehr effektiv, diese Atmung zu schulen und verstärkt die Art, wie man atmet durch die Körperbegrenzung und den Gegendruck, den der Gürtel auslöst. Weiterhin kann man die Entspannung und Funktionalität des Zwerchfells optimieren. Dazu gibt es Tools, die man zwischen den Lippen hält. Indem man das Ein- und Ausatmen erschwert, wie beim Atemtrainer, wird die neuro-muskuläre Kopplung vieler Atemmuskeln gestärkt.

Ihr "Geheimtipp" für einen erfolgversprechenden Einstieg?

Unbedingt einen Instruktor oder Therapeuten suchen, wenn man nicht weiterkommt oder Probleme auftauchen! Häufig hat man bestimmte Aspekte der Atemtechnik missverstanden oder hat individuelle Besonderheiten, die es einzubeziehen gilt.

Atem-Communities sind manchmal hilfreich, wenn man auf Gleichgesinnte trifft, die schon ihre Erfahrungen machen konnten, zuweilen erhält man jedoch auch wenig hilfreiche Antworten. Im Mitgliederbereich meines Podcast, dem Atemcodeclub, findet man glücklicherweise Beides, eine kompetente Community und mich als Experten, der viele unterstützende Tipps gibt.

Sie sind zertifizierter Wim Hof Instructor. Was fasziniert Sie an dieser Atemtechnik?

Zunächst hat mich sehr angesprochen, dass ich schon bei den ersten Selbsterfahrungen tolle Erlebnisse hatte, die mich dazu brachten, diese Technik täglich über Monate hinweg zu nutzen. Im Grunde kostet sie kein Geld und man hat Atmung immer verfügbar. Dann war ich natürlich fasziniert von den schon entstandenen wissenschaftlichen Publikationen über die Wim Hof Methode, die zeigen konnten, dass sich das menschliche Immunsystem durch Atmung nicht nur beeinflussen, sondern positiv ausbalancieren lässt. Etwas, das ich selbst sehr häufig erleben konnte, wenn eine Erkältung im Anmarsch war und ich mich durch Atmung wieder in die Gesundheit bringen konnte.

Das volle Potential der Methode habe ich jedoch erst erfassen können, als ich selbst Workshops gegeben habe. Die erstaunlichen Effekte bei so vielen Menschen lassen sich nicht wegdiskutieren. Man nehme einen Raum von 100 Menschen, leite sie durch die Wim Hof Atmung und 90 von Ihnen haben glücklich-machende Erlebnisse und sind vollkommen begeistert, vergessene Erfahrungen kommen ins Gedächtnis und unterdrückte Emotionen erhalten Ihren Raum. Es ist fantastisch, so ein Ateminstrument zu kennen und viele Menschen damit zu bereichern.

In der Corona Pandemie ist uns das Thema Atmung vor allem im Zusammenhang mit Intensivstationen und künstlicher Beatmung begegnet. Programme zur Prävention oder Rehabilitation sieht man bisher jedoch wenig. Kann aus Ihrer Sicht ein gezieltes Atemtraining bei generellen Atemwegserkrankungen, und bei Post-Covid Patienten im speziellen, hilfreich sein?

Es wurden schon einige Studien dazu gemacht, um genau diesen Punkt zu beleuchten: Sind Atemtechniken eine wertvolles, ergänzendes Tool, um Long-COVID zu verbessern? Untersuchungen speziell zu COVID und Atemtechniken sind mir nicht bekannt.

Generell scheint sich abzuzeichnen, dass selbst bei leichten oder asymptomatischen Verläufen Spätfolgen bleiben können. Ein Syndrom, dass man mittlerweile unter POST-COVID oder LONG-COVID zusammenfasst. Betroffen sind Menschen in der Altersgruppe der 25-50-jährigen, Frauen häufiger. Unsere Forschungsministerin geht von 350.000 Betroffenen aus. Am häufigsten scheinen sowohl eine allgemeine Erschöpfung mit anhaltender Müdigkeit und Antriebslosigkeit, als auch Atembeschwerden vorherrschend zu sein. Was dies alles für das Gesundheitssystem in Deutschland in Bezug auf Folgekosten bedeutet, ist noch gar nicht absehbar. Einige sprechen schon von einer drohenden gesundheitlichen und sozialen Krise.

Während in England zum Beispiel mit viel Geld einige neue medizinische Zentren eingerichtet wurden winken die Krankenkassen in Deutschland ab obwohl deutsche Ärzteverbände Vergleichbares fordern.

Ursächlich für LONG-COVID sind wahrscheinlich Veränderungen an verschiedenen Blutzellen: den Erythrozyten, die nun weniger Sauerstoff aufnehmen können und den neutrophilen Granulozyten. Die Nutzung von Atemtechniken ist ein vielversprechender Ansatz. Regelmäßiges Training kann die Funktion des Zwerchfells und eine normale Lungenkapazität wiederherstellen. Ebenso wichtig ist die Verbesserung von Angst und Depressionssymptomen, die relativ häufig zu beobachten sind.

Ich arbeite derzeit daran, ein „Atmung gegen LONG COVID“ Online-Programm aufzusetzen, dass Atemtechniken verschiedenster Richtungen vorteilhaft kombiniert, um Menschen, die betroffen sind in Ihrer häuslichen Umgebung in die Lage zu versetzen, ein eigenes wirksames Instrument gegen LONG COVID zu nutzen und sich selbst die besten, weil hilfreichsten Tools herauszupicken.

Zur Person

Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Matthias Wittfoth ist promovierter Neurowissenschaftler und zertifizierter Wim-Hof-Method Instructor. Er hat Psychologie in Bremen und Heidelberg studiert und am Max-Planck-Institut Leipzig Promoviert sowie zahlreiche internationale Publikationen als Hirnforscher zu den Themen Kognition, Emotion, Musik und Sprache veröffentlicht.

Nach fast zwei Jahrzehnten Forschungstätigkeit (Bremen, Hannover, Boston) mittels funktioneller Bildgebung des Gehirns, gibt er seit einigen Jahren europaweit Workshops zum Thema Atem- und Kältetraining.

matthiaswittfoth.de

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