„Multitasking bleibt ein stressinduzierter und wenig produktiver Mythos“
In Ihrem Buch "Frisch im Kopf" schreiben Sie unter anderem, dass die Menschen heutzutage ihr Handy 110-180 Mal pro Stunde berühren. Das ist eine ganz schöne Menge. Was macht die permanente Handynutzung mit unserem Gehirn?
Die permanente Nutzung digitaler Medien macht uns leichter ablenkbar. Konzentrationszeiten nehmen ab, da wir uns selbst beigebracht – uns sozusagen konditioniert – haben, noch stärker auf das zu achten, was wir gerade nicht im Fokus unserer Tätigkeit haben: Wir bearbeiten ein Projekt auf der Arbeit (primärer Fokus) und doch schielt das Gehirn immer auf eine eingehende Smartphone Nachricht aus den sozialen Medien. Wir unterbrechen darüber hinaus permanent alle unsere Tätigkeiten, üben also nicht, bei der Sache zu bleiben und Nebensächlichkeiten zu ignorieren. Doch wenn wir nicht gerade Notärzte oder Feuerwehrleute sind, sind eigehenden WhatsApp, TicToc oder andere Social Media Nachrichten nebensächlich. Kurzum, wir schwächen unsere Willenskraft.
Was bedeutet diese mediale Reizüberflutung und die damit einhergehende permanente Ablenkung (Aufmerksamkeitsunterbrechung) langfristig für unsere Gesundheit? Provokant gefragt, schalten unsere Gehirne irgendwann ab?
Nein, denn wir Lernen ja komplexe Technik zu benutzen. Wir lernen darüber hinaus auch unbewusst, weiter ganz viel über soziale Kontexte und Abläufe in unserem Leben. Wo wir aufpassen müssen ist, dass wir nicht zu viel Wissen extern, also durch Suchmaschinen, im Internet und über KI auslagern. Der Grund ist, das Wissen, Fakten und autobiographische Erinnerungen unser eigenes Gehirn auch strukturell verändern. Das bedeutet, wir sehen, denken und handeln differenzierter, wenn wir selbst viel über die Welt wissen. Diese Expertise dürfen wir nicht verlieren.
Wenn unser Gehirn überlastet ist, leiden auch unsere Kognition, Sprache und die Wahrnehmung visueller Objekte. Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
Reizüberflutung führt zu Stress im Gehirn und die Ausschüttung von Stresshormonen wiederum signalisiert dem Gehirn über die Amygdala, eine Art Emotionscomputer im Gehirn, dass eine Gefahrensituation herrscht. Bei Gefahr fokussiert sich der Blick und auch das Denken auf die direkte Umgebung und auf stereotype Abläufe: Wir sehen nur noch wenig von dem was uns umgibt und unsere Denken ist nicht mehr frei und assoziativ, sondern auf Reflexe ausgelegt.
Benötigen wir digitale Medien im Klassenzimmer? Kann effektives Lernen zweidimensional, also rein digital, überhaupt stattfinden?
Ja, lernen funktioniert auch digital am Bildschirm, nur ist es meist nicht so effektiv, wie das Lernen in einer sozialen Gruppe, die im gleichen Raum ist. Vor allem brauchen wir, egal wie wir lernen, Mentoren, Lehrer/innen, die uns anleiten, auf Fehler hinweisen und erklären was wir besser machen können. Leider hat sich auch gezeigt, dass selbstständiges Lernen am Tablet, also digital und am Bildschirm, vor allem gute Schüler/innen fördert und vor allem junge Menschen die aus soziale schwächeren Umständen kommen, benachteiligt. Häufig weil dort schlechtere digitale Endgeräte verwendet werden und selbstständiges Lernen nicht genügend vorgelebt wird. Die soziale Schere wird sogar noch größer und gerade Kindern, denen man so besonders helfen wollte, werden benachteiligt.
Wie beeinflusst die Nutzung digitaler Medien die motorischen Fähigkeiten von Kindern?
Die Feinmotorik leidet und auch der Gleichgewichtssinn. Heutige Kinder können in der Grundschule schon nicht mehr fehlerfrei über einen 10m langen geraden Strich auf dem Boden laufen. Dafür nimmt die Fingerfertigkeit am Smartphone zu und die dort häufig benutzen Finger haben sogar mehr Rechenplatz im Gehirn.
Wie können wir digitale Medien smart einsetzen? Ihre Empfehlung für eine gesunde Zukunft im On-Off-Modus?
Genau, on-off stärker unterscheiden, wann immer wir offline sind – dann alle Smartphone aus – und wenn wir online sind, uns ebenfalls ganz auf das konzentrieren was wir gerade tun, also in beidem Fällen stärker im Hier und Jetzt leben und zu versuchen, nicht an mehren Orten gleichzeitig zu sein. Multitasking bleibt ein stressinduzierter und wenig produktiver Mythos.
Über Dr. Korte
Prof. Dr. Martin Korte ist Neurobiologe, Professor in der Abteilung für Zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig und Autor. Sein Forschungsinteresse liegt insbesondere auf den zellulären Grundlagen von Lernen und Gedächtnis (Kognitive Neurowissenschaft). In seinem aktuellen Buch "Frisch im Kopf" beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der digitalen Reizüberflutung, der wir uns täglich aussetzen, auf unser Gehirn, unser Denken und unsere Gesundheit.